ne. Als meine Tochter eingeschult wurde, war der neue Lehrplan bereits
zwei Jahre lang in Kraft, und für ihre Lehrerin war es der zweite
Durchlauf einer ersten Klasse damit. Aus ihren Vorerfahrungen heraus kündigte
sie am ersten Elternabend an, daß sie sich in Mathematik an bestimmten
Punkten nicht an den neuen Lehrplan halten werde, da sie sonst die schwächeren
Kinder verlieren würde. Dennoch zeigte sich im Verlauf der ersten
beiden Klassen, daß etliche Kinder keine guten Grundlagen in Mathematik
erwerben konnten.
Dies sei an einigen Beispielen verdeutlicht:
Ein Kerngedanke des neuen Lehrplanes bezieht sich ganz grundlegend
auf das Lernen. So wird in einem Lehrerhandbuch zur Mathematik festgestellt,
daß Lernen bislang wie eine Mauer aufgefaßt wurde: Es müsse
Stein auf Stein gebaut und ein solides Fundament erstellt werden, sonst
würde die Mauer einstürzen. Die neue Theorie besagt hingegen,
Lernen sei wie ein Netz, man müsse immer wieder neue Knotenpunkte
und Verknüpfungen aufbauen, wenn dann etwas ausgelassen werde, würde
das Netz trotzdem halten.
Von diesem Lernmodell ausgehend sind die Unterrichtswerke in Mathematik,
v.a. das Buch „Das Zahlenbuch“ aus dem Klettverlag, so aufgebaut, daß
Themen angerissen, von verschiedenen Seiten betrachtet, wieder zur Seite
gelegt und später wieder aufgegriffen werden.
Ein konkretes Beispiel: Der Zehnerübergang, Grundlage für
alles Rechnen, auch im Hunderter- und Tausenderraum, wurde früher
systematisch beigebracht und intensiv geübt. Vielleicht erinnert sich
der eine oder andere noch: Erst wird der Zehner aufgefüllt, dann der
Restbetrag dazugezählt (z.B. 7+6=7+3 +3=13). Auf diese Art und Weise
hat jedes Kind eine einfache und sichere Methode an die Hand bekommen,
wie es diesen Schritt über den Zehner bewältigt. Im heutigen
Lehrplan werden den Kindern gleich von Anfang an mehrere Methoden alternativ
vorgestellt, die zum gleichen Ziel führen. Z.B. Nähe zu Verdopplungszahlen
(7+6 ist fast 7+7, also 7+7-1=14-1=13) oder Nähe zum ganzen Zehner
(7+9 ist fast 7+10, also 7+10-1=17-1=16) oder, weil jetzt immer in 5er-Blöcken
gedacht wird, werden die Zahlen in 5er zerlegt (7+6=5+2 + 5+1=5+5 + 2+1=10+3=13)
usw. Das Problem dabei ist nicht, daß den Kindern alternative Lösungswege
aufgezeigt werden, sondern, daß diese verschiedenen Wege alle auf
einmal dargeboten werden, die Kinder sich den jeweils für sie einfachsten,
mit dem sie am besten zurecht kommen, aussuchen und anwenden sollen und
keiner systematisch geübt wird. Diejenigen, die sowieso für sich
einen Weg gefunden haben, wie sie das mathematische Problem lösen,
können ihren Weg dann weiter anwenden. Aber diejenigen, die den Schritt
über den Zehner noch nicht wirklich verstanden haben, werden damit
allein gelassen, weil sowohl die Systematik als auch das Üben fehlen.
Bereits vor Weihnachten sollen die Kinder im gesamten Raum bis 20 rechnen,
ohne den Zehnerübergang gelernt zu haben. Im zweiten Halbjahr wird
dann der Zehnerübergang eingeführt - auf zwei Buchseiten – und
das war es dann auch schon wieder. Statt Vertiefung und Übung wird
der nächste komplexe Lerninhalt – die Uhr – angerissen. Wieder nur
für wenige Stunden, dann kommt das nächste Thema, das Rechnen
mit Euro. All die Themen werden irgendwann später wieder einmal im
Sinne eines spiraligen Vorgehens behandelt – die Systematik bleibt dabei
auf der Strecke.
Erfahrene Dritt-/Viertklaßlehrerinnen, die dann die Kinder nach
diesen zwei Jahren Vorbereitung übernehmen, stellen mit Erschrecken
fest, daß gerade der Zehnerübergang bei vielen Kindern überhaupt
nicht gefestigt ist. In mühsamer Arbeit müssen sie parallel zum
Stoff der dritten Klasse mit Hilfe von anschaulichem Material den Kindern
diesen elementaren Vorgang beibringen – mit Lochbrettern als Zugwaggons,
in die die Kinder kleine Holzzylinder stecken, den Zehner auffüllen
und schauen, wie viel im nächsten Waggon, der nächsten Zehnerreihe,
noch stecken. Um wie viel leichter hätten es die Schüler und
die Lehrer gehabt, wenn zum richtigen Zeitpunkt systematisch gearbeitet
und geübt worden wäre.
Wenn in der zweiten Klasse dann das Einmaleins kommt, ist es wieder
die Frage, wie eigenständig sich die Lehrkraft traut, ihre eigenen
Methoden anzuwenden. Vorgesehen ist nämlich, daß die Kinder
nicht mehr die Reihen auswendig lernen (1x3, 2x3, 3x3, 4x3, …10x3), sondern
nur noch Erkennungsaufgaben innerhalb der Reihen (2x3, die Verdopplung,
5x3, 10x3). Die restlichen Aufgaben innerhalb einer Reihe sollen sie sich
mit Hilfe der Erkennungsaufgaben „erschließen“. D.h. sie sollen auf
7x8 kommen, indem sie zu der (gelernten) Verdopplungsaufgabe 7x7 noch 7
hinzuzählen. Wenn man sich vorstellt, wie die Kinder, die nicht gescheit
über den Zehner rechnen können, jetzt zu 49 noch 7 addieren –
welch vergeudete Zeit und Energie. Anstatt den Kindern einfach abzuverlangen,
daß sie die Reihen auswendig lernen sollen. Aber die Netztheorie
besagt ja, daß Mut zur Lücke das vernetzte Denken ermöglichen
solle. In der dritten Klasse wird dann allerdings erwartet, daß die
Kinder das 1x1 beherrschen.
Ein weiteres Problem ist, daß in den Unterrichtsmaterialien von
Anfang an bewußt auch Aufgaben eingestreut sind, die für die
Kinder in der Stufe nicht lösbar sind. Z.B. sollen die Kinder bei
Zahlendreiecken die fehlenden Zahlen durch Ausprobieren finden (Ausrechnen
ist aufgrund zu vieler Unbekannter nicht möglich). Das Ausprobieren
an sich ist oft schon eine frustrierende Angelegenheit, die manche Eltern
von entmutigten Kindern dadurch zu lösen versuchen, daß sie
den Kindern „Tricks“ verraten (Rechenregeln, die man in fortgeschrittenerem
Mathealter lernt). Wenn die Kinder dann damit in die Schule kommen, soll
diese (für die erste oder zweite Klasse noch viel zu schwierige) Regel
als ein möglicher Lösungsweg vor der Klasse aufgegriffen und
allen vorgeführt werden: „So könnte man das auch heraus bekommen.“
Was heißt das für Kinder, die mit den normalen Anforderungen
schon weniger gut zurechtkommen? Und dann gibt es wie gesagt noch die unlösbaren
Aufgaben. Der Sinn ist, daß die Kinder zu der Erkenntnis kommen:
„Das ist nicht lösbar!“ Es gibt aber Kinder, die vor lauter Verzweiflung
über ihre eigene Unfähigkeit - sie zweifeln nämlich an sich,
nicht an der Aufgabe oder dem Buchautor – im Unterricht oder zuhause weinen
und denen die Freude an der Mathematik geraubt wird.
Der neue Lehrplan ist offensichtlich dafür entwickelt worden,
die guten Schüler mehr zu fördern. Gute zu fördern ist auch
nicht das Problem. Aber die Kinder, die nicht von zuhause her die nötige
Unterstützung erhalten können, bleiben auf der Strecke. War nicht
einmal das Ziel der Schulbildung, alle Kinder mitzunehmen? Nun sind wir
als Eltern immer mehr gefordert, eng an der Seite unserer Kinder zu sein
und sie beim Lernen zu begleiten, ihnen Mut zu machen und ihnen
über Hürden hinweg zu helfen. ·
Quelle: Für die Familie e.V. Infobrief 7, Dezember
2006