Das Wesen des Menschen ist die Freiheit. Ohne die Fähigkeit,
sich unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns auszudenken, um sie
dann mit Herz und Verstand gegeneinander abzuwägen und eine Wahl zu
treffen, sind wir nicht frei. Nicht allein physische Fesseln, politische
Rechtlosigkeit oder wirtschaftliche Not bedrohen die Freiheit des Menschen.
Unfreiheit kann auch aus fehlender Bildung, geringem Selbstvertrauen, mangelnder
Beziehungsfähigkeit und mancherlei neurotischen Störungen erwachsen.
Deshalb ist die Erziehung zur Freiheit zweifellos eine der vornehmsten
Aufgaben jeder Kultur.
Nach der Mutter-Kind-Beziehung ist die Familie der erste
Ort, an dem das Kind Beziehung lernt. Den anderen wahrnehmen, seine Absichten
verstehen, auf sich aufmerksam machen und seine eigenen Wünsche kundtun
– all die kleinen Schritte, die unser Leben lang Voraussetzung jeder sozialen
Aktivität sind, können hier erlernt werden. Es liegt wiederum
im Wesen der Freiheit des Menschen, daß dies besser oder schlechter
gelingen kann. Und alle Eltern haben seit jeher versucht, ihren Kindern
bei diesen ersten Schritten in die Gemeinschaft behilflich zu sein. Nicht
gleich weinen, sondern zeigen, was man will, nicht schubsen und kratzen,
„Bitte“ und „Danke“ sagen – alles Dinge, welche die Qualität erfüllten
menschlichen Daseins bereits in sich tragen. Dem anderen helfen, sich einfühlen
und erleben, daß auch andere an meinem Leben teilnehmen – das sind
nicht bloß schöne Episoden. Es sind die Dinge, die uns in schwierigen
Zeiten tragen und die Menschen dazu bringen, positiv in dieser Welt zu
wirken. Wenn wir wieder einmal feststellen müssen, daß Habgier
und Machtstreben Menschen dazu bringen, andere in Armut zu stürzen,
mit Krieg zu überziehen und die Methoden der Manipulation immer weiter
zu entwickeln, dann erleben wir auch den Mangel an Menschlichkeit in den
ersten Lebensjahren der Täter.
Erziehung zur Freiheit beginnt im frühen Kindesalter.
Im Kindergarten übt und erweitert das Kind die Fähigkeiten, die
es aus der Familie mitbringt. Der Kindergarten gibt auch den Kindern, die
bereits Defizite in der Beziehungsfähigkeit zeigen, eine Chance, das
Versäumte nachzuholen. Jede gemeinsame Aktivität der Kinder gibt
Gelegenheit, soziales Verhalten zu lernen. Dies passiert aber nicht von
allein. Unglücklicherweise ist die Vorstellung sehr verbreitet, Kinder
würden sich besser entwickeln, wenn die Erwachsenen sich nicht einmischen.
Kinder geraten oft in Streit, weil sie noch nicht wissen, wie sie sich
bei einem Spiel einigen können. Oft haben sie den Einsatz von Gewalt
irgendwo mitbekommen und es fehlt ihnen andererseits noch das Verständnis
für die Wünsche des Spielkameraden. In dieser Situation brauchen
Kinder eine Anleitung. Diese erweitert ihre Möglichkeiten und befähigt
sie damit erst zur Freiheit. Eine gelungene Intervention der Kindergärtnerin
wird ihnen vermitteln, daß ihre eigenen Wünsche und die des
anderen gleichermaßen Gültigkeit haben. Sie wird die Freundschaft
der Kinder fördern. Ein Gewährenlassen dagegen birgt die Gefahr,
daß abschreckende Erlebnisse zu falschen Schlüssen bis hin zu
Rückzug vom Mitmenschen oder dem Wunsch zu herrschen führen.
Ein Kind ist keine Pflanze, die bei genügend Wasser und Licht nach
einem inneren Bauplan zu ihrer endgültigen Form findet. Es ist kein
Instinktwesen, wie die Tiere, die nur wenige Dinge durch Anleitung der
Eltern lernen. Seine Fähigkeiten sind erlernt, wie seine Gefühle.
Die Kindergärtnerin, die über ein großes
Repertoire von Spielen verfügt, fördert die Entwicklung von Herz,
Hand und Kopf. Sie zeigt den Kindern beispielsweise vier Gegenstände.
Diese werden zugedeckt und einer verschwindet. Nachher sind nur noch drei
Gegenstände zu sehen. Welcher ist verschwunden? Für kleine Kinder
nicht leicht. Aber sie strengen sich an. Sie trainieren ihren Kopf. Manch
eines nimmt sich vor, beim nächsten Mal besser aufzupassen. Die Kindergärtnerin
gibt einen Tip. Stoff zum Nachdenken. Aber das ist nicht alles. Das Spiel
hat eine emotionale Seite. Damit fertig werden, daß ein anderes Kind
es wußte. Sich sogar über den Erfolg des anderen Kindes zu freuen.
Das Gefühl, gemeinsam Spaß zu haben, dabei zu sein. „Ganz prima
habt ihr das gemacht.“ Und jedes Kind ist gemeint. Natürlich können
und sollen Kinder auch miteinander spielen, ohne Erwachsene. Aber im Kindergarten
sollen sie auf das eben Geschilderte nicht verzichten müssen.
Ein Familienverein hat in der heutigen Zeit auch die
Aufgabe, die Freiheit der erwachsenen Familienmitglieder zu verteidigen.
Wir erleben heute seltsame Begriffsverdrehungen. Eine Frau, die sogenannt
berufstätig ist, also das Haus verlässt um einige Stunden pro
Tag gegen Bezahlung ihre Arbeitskraft zu verkaufen und den Anweisungen
des Arbeitgebers zu folgen, gilt als frei. Diejenige, die den ganzen Tag
„nur“ der Erziehung der Kinder und der Haushaltsführung widmet, gilt
als unfrei. Schlimmer noch: es wird behauptet, letztere folge einem Zwang.
Es wird zum Ziel staatlicher Politik erhoben, daß Frauen arbeiten,
also ihre Arbeitskraft verkaufen sollen. Jungen Müttern, die sich
aus guten Gründen anders entscheiden, wird suggeriert, sie seien nicht
vollwertig, sie seien jetzt das „Muttchen am Herd“. Freiheit kann nur heißen,
daß jede Frau, jeder Mann und jede Familie selbst entscheidet, wie
sie ihr Leben einrichtet. Jede Abwertung der Erziehungsaufgabe ist gegen
die Freiheit gerichtet. Egal, wie eine Familie sich entscheidet – sie verdient
Unterstützung bei der schweren und für alle wichtigen Aufgabe
der Erziehung.
Es braucht viel, daß ein junger Mensch zum demokratischen
Staatsbürger wird. Er braucht Mut. Die Angst, als Außenseiter
gebrandmarkt zu werden, lässt ihn zu Unrecht schweigen. Er braucht
das Gefühl, von Mitmenschen geschätzt zu werden, die Erfahrung
echter Freundschaft. Ohne diese wird er der Versuchung des Massenrausches
nicht widerstehen können. Er wird verführbar sein, denn die Verführer
wissen, welche Gefühle sie ansprechen müssen. Wer seinem Wissen
und Denken folgen will und seinen ethischen Überzeugungen, braucht
neben einem freien Geist auch eine gefühlsmäßige Unabhängigkeit.
Ein Mensch, der – meist ohne es zu wissen – nach Anerkennung und Erfolgserlebnissen
dürstet wie ein Wüstenwanderer nach Wasser, hat diese Freiheit
nicht. Sein Weg wird von Ängsten und falschen Zielen, im schlimmsten
Fall von der Gier nach Macht und Geld bestimmt sein.
Familie und Kindergarten sind, ebenso wie die Schule
und die ganze demokratische Gesellschaft, aufgerufen, die Freiheit des
Menschen zu verteidigen und durch Erziehung immer neu zu schaffen.
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Quelle: Für die Familie, Infobrief 2