Mit dem Herzen sehen lernen
Zur Stärkung des Verantwortungsgefühls in der Erziehung

Dr. Anita Schächter, Kinder- und Jugendpsychologin

Wer sich mit dem Stellenwert des Verantwortungsgefühls im Lebenslauf von Menschen befaßt, merkt bald, daß er in den Kernbereich des Menschseins vorstößt. Der Mensch reift erst zum Mitmenschen, wenn er Verantwortung empfindet und diese auch in seinem Lebensumfeld lebt. Erst dann wird er seine Kompetenzen, die er sich in seinem Leben erworben hat, gewinnbringend einsetzen, erst dann wird er Genugtuung empfinden, einen Lebenssinn erkennen.
Das Augenmerk von Eltern, Großeltern und Erziehern sollte darauf gerichtet sein, für das Kind Voraussetzungen zu schaffen, die es ihm möglich machen, Verantwortungsgefühl zu entwickeln: Um seine Sozialnatur entfalten zu können, muß das Kind ein Gefühl für die eigene Bedeutung als Mitmensch entwickeln. Es muß lernen können, sich in sein Gegenüber einzufühlen, um so Empathie und Einfühlungsvermögen zu erwerben. Das Kind muß angeleitet werden zu helfen, und diese Hilfe muß vom Erwachsenen auch eingefordert werden im Sinne einer Freude am Mittun. Hier braucht das Kind auch konkrete Hilfestellung im Erwerb von praktischen und sozialen Kompetenzen.

Mitmensch werden

Verantwortungsgefühl kann sich nur aus dem Gefühl für den eigenen Wert entwickeln. Der Mensch muß ein Gefühl für die eigene Bedeutung haben, er muß wissen: «Mein Beitrag ist wichtig.» Dann wird er gerne helfen, gerne mittun. Zum Beispiel: Der 5jährige, der von der Mutter gebeten wurde, ihr beim Ausräumen des Großeinkaufs behilflich zu sein. Sie bat ihn sehr ernst und mit dem Gefühl, daß sein Beitrag auch wirklich wichtig ist, weil sie seit einigen Tagen starke Rückenschmerzen hatte. Sie bedankte sich dafür echt, nicht überschwenglich. Sie fühlte tatsächlich Dankbarkeit und zeigte sie ihm. Dies war der Ausgangspunkt für Marvin, der Mutter fortan beim Entladen des Autos helfen zu wollen und beim Tragen seine Kraft zu beweisen. Diesen Impuls hielt die Mutter auch dann noch wach, als sie wieder gesund war. Der Zusammenhang wurde ihr erst richtig klar, als ihre Freundin sie fragte, wie sie es bewerkstelligt habe, daß Marvin so hilfsbereit beim Tragen sei. Denn er half immer gerne beim Tragen, ja er dachte sogar mit und voraus.

Warum hilft der Mensch?

Intelligenztests zur Messung der sozial-emotionalen Intelligenz arbeiten mit Fragen. Eine dieser Fragen in einem gebräuchlichen Intelligenztest lautet: «Warum hilft man manchmal anderen Menschen, auch wenn man nichts dafür bekommt?» Ja, warum? Warum helfen Menschen einander? Warum ist es ein natürlicher Impuls, daß Eltern für ihre Kinder sorgen, sich um ihr Wohl mühen? Warum lassen wir der Frau, die sich mit Krücken mühsam in der Schlange vor der Kasse anstellt, den Vortritt, auch wenn wir in Eile sind? Warum gibt uns dies ein gutes Gefühl?
Der Wunsch zu helfen knüpft an die Sozialnatur des Menschen an. Der Mensch ist mit seinen Sinnen, der Fähigkeit, Sprache zu erwerben, auf den Mitmenschen bezogen. Laut Portmann ist er eine extra-uterine Frühgeburt. Er ist in den ersten Lebensjahren nicht allein lebensfähig. Würde er nicht auf die Fürsorge, die selbstlose Hilfe zugewandter Mitmenschen stoßen, könnte er nicht überleben.
Der Wunsch zu helfen wird auch Altruismus genannt, er zählt zu den sogenannten prosozialen Verhaltensweisen. Das Christentum widmet ihm einen seiner Kerninhalte, die Nächstenliebe: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Bindungspsychologische Studien haben die Bedeutung der Nächstenliebe voll bestätigt.
Die Fähigkeit zu lieben ist in der menschlichen Natur angelegt. Sie entfaltet sich aber erst durch das Erfahren von Liebe. Ein Mensch, der ohne Liebe ins Leben finden muß, kann seine Liebesfähigkeit nicht voll entwickeln. Sind wir im Reinen mit uns selbst, können wir uns annehmen im großen und ganzen, dann sind wir auch frei zu lieben. Diese Fähigkeit zu lieben, selbstlos, also ohne etwas dafür zu bekommen oder bekommen zu wollen, braucht das Erleben, daß Menschen füreinander dasind. Wer etwas für einen Mitmenschen tut und eine Geste des Danks dafür erfährt, der spürt in sich die Gewißheit, daß es gut war zu helfen. Er geht dann mit einem Gefühl in den weiteren Tag, welches ihm sagt: «Es war richtig, so zu handeln. Einem anderen Menschen hat meine Hilfe etwas bedeutet.» Dies zeigt sich in großen oder kleinen zwischenmenschlichen Abläufen.
So konnte ich kürzlich bei einem Nachmittagspaziergang mit den Kindern folgendes beobachten: Drei Männer saßen am Flußufer und ruhten sich von einer Fahrradtour aus. Sie hatten eine Strecke von mehreren hundert Kilometern im Verlauf der Tour zurückgelegt. Ein älterer Mann, der das Gespräch mitangehört hatte, trat nun hinzu. Er erklärte von sich aus den Männern die Gegend, schlug ihnen Sehenswürdigkeiten vor und eine günstige Übernachtung. Dieses Gespräch hatte für alle einen wohlwollend-angenehmen Charakter, es verschönte für alle Beteiligten den weiteren Tag.

Auf mich kommt es an!

Ein zweites Beispiel geht auf eine Gesprächsrunde zurück, in der 10 Jugendliche mit einer Frau aus Burundi sprechen konnten und von ihr viel über das Leben dort erfuhren. Sie stellten Fragen und staunten, als sie erfuhren, wie sehr die Menschen dort, in dem viertärmsten Land der Erde, auf Existentielles zurückgeworfen sind. Alle haben Todesfälle zu verzeichnen: Geschwister, Eltern, Kinder sind viel zu früh gestorben, ermordet im Bürgerkrieg, an Krankheiten gestorben, an denen bei uns niemand sterben muß, weil medizinische Hilfe verfügbar ist. Aus den Schilderungen der Besucherin wurde klar, daß die Menschen dort ohne die gelebte gegenseitige Hilfe veröden würden. Dort, wo kein Staat für Waisenkinder sorgen kann, müssen die, die ein Waisenkind auf der Straße finden, es in ihre Familie aufnehmen, ohne etwas hierfür zu bekommen. Und sie helfen, auch wenn sie selbst zuwenig zum Leben haben.
Eine 15jährige konnte diesen Umstand nicht fassen. Sie fragte: «Und wenn keiner ein solches Kind aufnimmt? Was passiert dann mit ihm?» Die Besucherin antwortete in aller Selbstverständlichkeit: «Alors c'est toi qui aide.» («Dann wirst du es sein, die hilft.») Hiermit drückte sie die Selbstverständlichkeit der gelebten Hilfe und das Vertrauen in die menschliche Natur aus: Der Mensch hilft, wenn er seine Bedeutung erkennt, wenn er spürt: «Auf mich kommt es an! Wenn ich nicht helfe, ist nicht geholfen worden. Mein Beitrag ist wesentlich.»
Zurück zur eingangs gestellten Frage. Wenn ein Kind diese Frage: «Warum hilft man einem Menschen, auch wenn man nichts dafür bekommt?» richtig beantwortet, erhält es einen Punkt dafür. Richtig heißt, wenn es die Frage in dem Sinn beantwortet, daß es einen selbst freut, geholfen zu haben, oder weil man so Freundschaften gewinnen kann, weil man einem anderen eine Freude machen möchte, aus Höflichkeit oder weil man selbst vielleicht auch einmal Hilfe braucht. Diese und ähnliche Antworten lassen erkennen, daß das Kind verstanden hat, warum soziale Systeme nur funktionieren, wenn man hilft, wenn der «Altruismus» lebt unter uns Menschen. Das Kind zeigt dann mit seiner Antwort, daß es dabei ist, die Sozialnatur des Menschen zu erfassen, oder bereits erfaßt hat.

Bedeutung der Empathie

Eine zweite Komponente ist für das Entwickeln von Mitmenschlichkeit oder Verantwortungsbewußtsein ebenfalls von Bedeutung: Um Verantwortung übernehmen zu können, braucht es die Fähigkeit, über einen anderen Menschen nachdenken zu können. Man muß erkennen: Die Radfahrer sind hier nicht ortskundig, sie könnten meine Hinweise und Tips gut brauchen. Oder: Das Waisenkind kann ohne Familie nicht überleben. Oder: Die Großmutter wird sich Sorgen machen, wo sie ihren Schlüssel wohl verloren hat. Ich will sie nicht in der Sorge schmoren lassen. Es braucht die Fähigkeit, denken und fühlen zu können: Wir geht es dem anderen Menschen? Was braucht er? Was braucht der alte Mensch, der Kranke, der Bedürftige? Hier sind immer wieder Gespräche mit dem Kind, aber auch unter uns Erwachsenen notwendig, die uns die Situation, die Beweggründe des Mitmenschen einfühlbar machen. Immer wieder sind wir aufgefordert, uns zu bemühen, mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und mit dem Herzen des anderen zu fühlen. So drückte es Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, plastisch und nachvollziehbar aus. So wollte er verstehbar machen, was unter Mitgefühl oder Gemeinschaftsgefühl zu verstehen sei. Diese Schulung im Einfühlungsvermögen ist auch unter uns Erwachsenen ständig notwendig, damit diese Fähigkeit nicht verkümmert und sie im Gegenteil von Jahr zu Jahr weiter ausreifen kann. Dies macht dann auch im Alter den lebenserfahrenen, reifen Menschen aus, auf den jüngere sich gerne abstützen, an den sie sich gern wenden, wenn sie Rat oder Hilfe brauchen.

Anleitung zum Helfen

Doch das Erfahren von Liebe - so grundlegend und wertvoll sie ist - genügt nicht, um die Sozialnatur, das Mitgefühl, das Helfen-Wollen voll zur Entfaltung zu bringen. Zur Liebe, zum Mitgefühl und zum Verständnis für das Kind braucht es eine aktive Anleitung des Kindes. Eltern müssen Ansätze beim Kind erkennen und ihnen Raum geben, an die die Mitmenschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, die Nächstenliebe anknüpft.
Zum Beispiel hatte die Großmutter beim Besuch der Enkel den eigenen Haustürschlüssel liegen lassen. Der 5jährige hat ihn entdeckt. Die Mutter sprach: «Gut, daß du den Schlüssel gefunden hast. Da wird Oma erleichtert sein, wenn sie weiß, wo der Schlüssel ist. Magst du bei ihr anrufen, sie müßte schon angekommen sein.» Die Oma war tatsächlich gerade mit Hilfe des Ersatzschlüssels der Nachbarin in ihre Wohnung gekommen. Sie bedankte sich herzlich für den gemeldeten Fund. Sie schlug dem Enkel vor, er möge den Schlüssel doch der Tante, die ja morgen auch zu ihr käme, mitgeben. Der Enkel machte sich den Schlüssel nun ganz zu seiner Sache. Ihm war klar: Hier ist mein Beitrag gefordert und wichtig. Er dachte daran. Dies war der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Verläßlichkeit, die besagte: «Mein Mitdenken ist entscheidend. Meine Mitmenschen verlassen sich auf mich, sie sind auf mein verantwortliches Mitdenken angewiesen. Ich habe helfen können, meine Hilfe hatte Bedeutung.»
Hier ist es entscheidend, daß die Erwachsenen dem Erleben Raum geben, daß das Kind helfen kann. Sie müssen es anhalten oder anleiten zu helfen. Es soll kein hohles Lob, sondern ein echtes Gefühl der Freude oder des Dankes für die erfahrene Hilfe sein, welches dem Kind entgegengebracht wird. «Wie gut, daß du den Tisch schon gedeckt hast. Jetzt können wir uns gleich hinsetzen und essen.».
Der Erwachsene muß den positiven Kern oder Ansatz im Mitmenschen erkennen, im Kind, im Jugendlichen, aber auch im Erwachsenen. Durch innere Anteilnahme muß diese Wahrnehmung und Würdigung der erfahrenen Hilfe gespiegelt werden. So erhält das Kind die Möglichkeit, diesen Aspekt seiner Persönlichkeit in sein Selbstbild zu integrieren und weiter auszubauen und zu festigen, so daß es den Impuls mitzutun, mitzutragen, verantwortlich zu sein, später in sein Leben hineinträgt und Mitmensch wird.
Eltern müssen dem Kind Verantwortung übertragen und es auffordern, sich so zu verhalten, daß es einem anderen etwas Gutes tut («Frage doch den Papa, ob er sich über eine Tasse Kaffee freuen würde»).
Diana Baumrind stellte fest, daß Kinder, die Verpflichtungen im Haushalt übernehmen mußten, auch freundlicher und umgänglicher waren als Kinder, die dies nicht tun mußten. Das gleiche traf auf Kinder zu, die Verantwortung für ein Haustier hatten. Je mehr ein Kind zur Erhaltung der Familie beträgt (dies zeigten besonders interkulturelle Vergleichsstudien), desto altruistischer war es. Kinder, die zum Beispiel Vieh hüten mußten, für Geschwister sorgen mußten, entwickelten mehr Mitgefühl als Kinder, die keine Verantwortung übernehmen mußten. Dies war der Fall, wenn die einzige Pflicht der Kinder sich darin erschöpfte, daß sie ihr Zimmer aufräumen mußten. Sein eigenes Zimmer aufzuräumen gibt einem Kind nicht das Gefühl, zum Wohl der Familie beizutragen. Und genau darauf kommt es an, damit der Mensch Verantwortungsgefühl entwickeln kann.
Hier muß man auch geradezu an die sogenannten «Kriegskinder» denken, die in der Großelterngeneration lebenden Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges, die trotz der erlittenen Not und Pein spürten oder erleben durften, daß es in den Nachkriegsjahren auf ihren Beitrag ankam, daß ihr Mittun zum Überleben und Wohl der ganzen Familie gefordert war. Den Eltern der Kriegs- und Nachkriegsgeneration stand kein Raum zur Verfügung, die heranwachsende Generation zu verwöhnen, sie sahen die kompetenten Seiten der Kinder. Und diese wuchsen auch zu äußerst lebensfähigen Mitmenschen heran, die spontan dort halfen, wo sie konnten.
In der Vermittlung von Hilfsbereitschaft und Verantwortungsgefühl haben alle - Eltern, Großeltern, Lehrer, Kindergärtnerinnen - viel in der Hand. Hier geht es um das Funktionieren und letztlich um den Fortbestand der Gesellschaft.   ·

Literatur:
Ervin Staub, Entwicklung prosozialen Verhaltens. Zur Psychologie der Mitmenschlichkeit. Urban & Schwarzenberg 1982

Quelle: Für die Familie e.V. Infobrief 7, Dezember 2006