Spielverderber!

Dr. Anita Schächter

„Ich spiele nicht mehr mit!“ Uwe läuft weg. „So gemein von Dir. Du willst nur nicht verlieren," ruft Simon, der elfjährige Bruder von Uwe. „Typisch Uwe. Spielverderber!" ruft Felix, der achtjährige Bruder von Uwe. Der vierte im Bund, Johannes, ihr Freund aus der Nachbarschaft schweigt. Uwe war zwei Tore im Rückstand.
Tatsächlich hatte er ganz plötzlich keine Lust mehr, weiter Fußball zu spielen, als er bemerkte, daß er verlieren könnte. Uwe weint wütend, er läuft ins Haus und schließt sich auf der Toilette ein. Hier kann ihn keiner stören und keiner sieht, wie er weint. Uwe ist in der ersten Klasse. Er ist der Jüngste von drei Brüdern und das ist gar nicht leicht. Immer verliert nur er. Die anderen sind immer schneller als er. Nie lassen sie ihn mitspielen. Was bleibt einem da anderes übrig, als sich zu wehren.
Abends, wenn er in seinem Bett liegt, kann er oft lange nicht einschlafen. Er denkt dann an die Situation, in der er verloren hat und seine Brüder ihn ausgelacht hatten. Dann träumt er einfach, wie es wäre, wenn er haushoch gewinnt. Er schießt ein Tor nach dem anderen und seinen Brüdern bleibt vor Staunen der Mund offen. Ja. So müßte es sein, dann wäre das Leben ein Fest. Während er so nachdenkt, wälzt er sich von der einen Seite auf die andere. Nein, schlafen kann er nicht. Und überhaupt: Simon darf noch aufbleiben. Das ist ungerecht, denkt er.

Nach der Schule spielen Felix und Simon schnell eine Runde Tischfußball, bis das Essen fertig ist. Das findet Uwe gemein. Die lassen ihn ja doch nie mitspielen. Schnell geht er hin und nimmt die Tischfußbälle weg und wirft sie in die Ecke, so daß seine Brüder das Spiel unterbrechen müssen. Sie schimpfen mit Uwe: „Spielverderber“ rufen sie ihm hinterher.

Nachmittags sind alle drei auf dem Hof, als Mutter sie ruft: „Ich habe Kuchen gemacht und den Tisch gedeckt. Kommt, wir essen zusammen. Heute ist Tante Evi zu Besuch.“ Felix schlägt vor, einen Wettlauf zu machen. Wer als erster oben angekommen ist, hat gewonnen. Es sind zwei Treppenabsätze mit jeweils 12 Stufen. Uwe ruft „okay“ und drängelt sich vor seine Brüder vor. Er will zwei Stufen Vortritt, sonst ist es ja gemein. Das ärgert aber Felix und Simon, denn so ist es ja nicht für alle gleich. Sie schauen sich an und nicken: „Spielverderber.“ Natürlich kommt Uwe jetzt als erster an. Aber nur weil er gedrängelt hat. Tante Evi steht oben an der Treppe und begrüßt die drei: „Hallöchen, ihr Räuber. Endlich sehe ich euch mal wieder. Habt ihr Streit gehabt?“ „Immer Uwe,“ platzt es aus Felix und Simon heraus. „Der ist ein ewiger Spielverderber.“

Die vier gehen ins Eßzimmer, wo Mutter den Tisch richtig schön gedeckt hat. Mhm, der Erdbeerkuchen sieht so lecker aus. Und auch noch Sahne gibt es dazu. Lecker, lecker. Simon greift als erster zu. Er will sich das größte Stück vom Kuchen sichern. Schon protestieren die anderen.
„Immer dieser Streit,“ ruft Mutter. „Geht es denn keinen Tag mal ohne diesen Streit? Ich kann es schon nicht mehr hören. Jetzt ist Ruhe oder ich esse mit Tante Evi den Kuchen alleine auf.“ Die Brüder setzen sich an den Tisch und schweigen betroffen.
Tante Evi spricht in die Stille: „Ich habe euren Streit mitbekommen. Kann es sein, daß Uwe sich ärgert, wenn er verliert?“ Uwe nickt und Tante Evi sagt: „Ja, wer verliert schon gerne? Verlieren muß gelernt werden. Kann es sein, daß Uwe deshalb zwei Treppen Vortritt will, weil es für den Jüngsten in der Familie besonders schwer ist, wenn man verliert. Denn der Jüngste in der Familie ist ja kleiner und weniger schnell als die Älteren. Schaut, Uwe ist zwei Jahre jünger als Felix und fast fünf Jahre jünger als Simon. Oft vergißt man, daß die großen Brüder mehr Zeit zum Üben hatten, als die jüngeren Geschwister. Simon, du kannst mir beim Rechnen helfen. Wieviel Tage hat das Jahr?“ Das weiß Simon ganz genau, denn beim Rechnen auf der Realschule haben sie das schon wissen müssen und er sagt: „365 Tage.“
„Genau, genau,“ sagt Tante Evi. „Wieviele Tage hat Felix mehr üben können als Uwe?“ „fast 700 Tage“ sagt Simon. Das hätte Felix auch schon gewußt, denn in der Schule rechnen sie schon bis 1000. Doch so schnell wie Simon ist er nicht im Kopfrechnen. Jetzt, wo sie mit Tante Evi drüber reden, fällt es auch Felix auf, daß es ja logisch ist, daß Simon schneller im Kopfrechnen ist als er, denn er ist ja viel älter und hat schon viel mehr üben können. „Ja, und wieviele Tage hast du schon mehr geübt als Uwe?“ fragt Tante Evi ihn. Da muß auch Simon ein wenig überlegen, dann sagt er: „Ziemlich genau macht das 1.855 Tage, denn ich bin fünf Jahre und einen Monat älter als mein kleiner Bruder.“

Uwe staunt: Mensch, wie gut Simon rechnen kann, wenn er das nur auch schon könnte. Fast als könnte Tante Evi Gedanken lesen, sagt sie zu Uwe: „Und wenn du in der fünften Klasse bist, kannst du auch so gut rechen wie dein großer Bruder. Denn der hat 1.855 Tage mehr üben können als du. Deshalb ist er schneller und besser als du.“ Das versöhnt Uwe ein kleines bißchen.

Mutter hat allen Brüdern, Tante Evi und sich ein Stück Kuchen auf den Teller gegeben und auch schon die Sahne auf den Kuchenstückchen verteilt. Jetzt, wo alle so schön miteinander dasitzen und reden, hat Uwe überhaupt nicht das Gefühl, ein zu kleines Stück Kuchen erwischt zu haben Es interessiert ihn überhaupt nicht, wie groß welches Stück Kuchen ist. Schmecken tut er einfach super. Mama ist die beste Köchin, sagt Papa oft. Das findet Uwe auch.

Tante Evi sagt: „Der Kuchen ist wieder mal ein Gedicht, findet ihr auch?“ Alle drei nicken. Mama strahlt. „Danke für euer Kompliment,“ sagt sie. „Komplimente sind der Lohn der Mutter.“ Nun fragt Tante Evi in die gute Stimmung hinein: „Wie habt ihr es denn untereinander? Könnt ihr schön miteinander spielen?“ Felix sagt: „Ehrlich gesagt, Uwe ist oft ein Spielverderber.“ Das klingt jetzt gar nicht gemein, so wie Felix es gesagt hat. Und Tante Evi fragt: „Kannst du mal ein Beispiel erzählen, wie Uwe euer Spiel verdorben hat?“ „Ja,“ sagt Felix versöhnlich. „Gerade heute vor dem Mittagessen, da haben Simon und ich Tischfußball gespielt. Und dann hat Uwe uns die Bälle geklaut und weggeworfen.“ „Ach so war das,“ sagt Tante Evi. „Kann es sein, daß Uwe am liebsten mitspielen wollte,“ fragt sie weiter und schaut Uwe dabei an. Der nickt deutlich und ist erleichtert, daß endlich mal jemand versteht, daß er das Spiel gar nicht verderben will, sondern am liebsten mitspielen will. „Seht ihr,“ sagt Tante Evi zu den beiden Großen. „Er wollte mit euch mitspielen.“ „Warum hat er dann nicht gefragt?“ ruft Simon nun. Und Uwe antwortet prompt: „Weil ihr ja doch nein gesagt hättet.“ „Stimmt das? Hättet ihr nein gesagt?“ fragt Tante Evi die Großen. „Vielleicht hätten wir ihm gesagt, daß wir das Spiel noch fertig spielen wollen. Aber man kann auch zu dritt Tischfußball spielen, dann spielen zwei gegen einen. Dann hätten die Jüngsten gegen Simon spielen können,“ meint Felix. „Klingt ganz gut,“ meint Tante Evi. „Was denkst du, Uwe: Wie wäre es, wenn du nächstens fragst? Und wenn die beiden nein sagen, dann versuchst du, dich mal nicht zu ärgern, sondern machst ihnen einen Vorschlag und sagst: Dann spielen wir das nächste Spiel zusammen.“ Simon hat ganz genau zugehört. Jetzt sagt er: „Mensch, Uwe, das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du uns nicht ärgern willst, sondern mitspielen möchtest. Frag doch einfach beim nächsten Mal.“

Nun fällt Tante Evi noch etwas ein, und sie fragt in die Runde. „Kann es sein, daß man als Jüngster in der Familie denkt, daß die anderen alles besser machen, als man selbst? Und kann es sein, daß es dann besonders schwer ist zu verlieren?“ Uwe nickt, als Tante Evi so spricht. Ganz spontan sagt Felix zu Uwe. „Uwe, das stimmt aber gar nicht, du bist nämlich ganz schön gut. Als ich so alt war wie du, war ich nicht so gut wie du.“ Uwe bleibt vor Staunen der Mund offen. Er kann es gar nicht glauben. Jetzt grinst er und denkt: „Dann bin ich gar nicht so schlecht, wie ich immer gedacht habe.“
Tante Evi greift den Gedanken von Felix auf und sagt: „Das finde ich toll, Felix, daß du das so offen sagen kannst. Ich finde auch, daß der Uwe ganz schön gut ist. Aber weil er weniger Zeit in seinem Leben gehabt hat zum Üben als ihr, denkt er den falschen Gedanken. Er meint, er wäre schlechter als ihr. Aber in Wirklichkeit ist er gar nicht schlechter. Er hat nur weniger Zeit zum Üben gehabt in seinem Leben. Es tut ihm sehr weh, wenn er verloren hat, weil er dann wieder denkt: ‚Ich bin hier der schlechteste in der Familie.’ Könntet ihr Uwe nicht ab und zu daran erinnern, daß ihr in der ersten Klasse dies oder jenes noch nicht gekonnt habt und ihm sagen, wie ihr findet, wie er es macht? Ab und zu könnt ihr ihm ja mal ein Tor Vorsprung geben. Wenn ihr wollt.“
„Ja, gut“ sagt Simon. „Ich glaube, wir sollten noch eine Regel aufstellen beim Spielen: Wer gewinnt, darf die Verlierer nicht auslachen.“ Uwe nickt: „Das ärgert einen besonders, wenn die anderen lachen, daß man verloren hat.“ Abgemacht ist abgemacht. Wer die Regel vergißt, den erinnert man wieder daran. Und nun möchten alle noch ein zweites Stück vom Erdbeerkuchen. Zum Glück bleibt noch eines für den Papa übrig, denn der freut sich, wenn er nach dem Abendbrot noch so etwas Feines essen darf.
Uwe weiß schon, was Papa sagen wird, wenn er den Kuchen gegessen hat: „Mama ist die beste Köchin der Welt.“ Und wenn er besonders gut gelaunt ist, nimmt er Mama in den Arm und gibt ihr einen Kuß. Dann will Uwe heute sagen: „Ich weiß schon. Komplimente sind der Lohn der Mutter.“

Ist Ihr Kind auch manchmal ein Spielverderber? Kinder, die anderen das Spiel verderben, beschäftigt oft etwas.

Quelle: Für die Familie e.V., Infobrief 4, Dezember 2002