«Unsere Kinder brauchen uns»

 

Dr. Anita Schächter, Kinder- und Jugendpsychologin

 

Es gibt zwei gute Gründe, dieses Buch zu lesen:

1. Gordon Neufeld, kanadischer Psychologe, entwirft auf der Grundlage der Bindungstheorie ein Erziehungskonzept, welches die Eltern ins Zentrum der Familie rückt. Neufeld geht weg von der Kind­zentrierung hin zur Aussage, dass die Eltern Dreh- und Angelpunkt im Lebens­gefühl ihrer Kinder sind: «Absolut klar ist, dass so, wie die Planeten um die Sonne kreisen, Kinder ursprünglich um ihre Eltern und andere für sie verantwortliche Erwachsene kreisen sollten. Dennoch kreisen inzwischen immer mehr Kinder umeinander.» (S. 21) Neufeld macht den Schritt weg von der «Tip-Pädagogik», weg vom Belohnen und Bestrafen. Er lenkt den Blick auf die Bindungsbeziehung im Wissen darum, dass die Eltern sich der Bedeutung für ihre Kinder bewusst sein müssen.

 2. Neufeld erklärt schlüssig, was vorausgegangen ist, wenn Kinder nicht mehr mit ihren Eltern kooperieren. Hierfür wählt er die Begriffe der Bindungslücke und der Gleich­­altrigenorientierung. Neufeld trifft ein zentrales Problem, mit dem Eltern und Lehrer sich abmühen, weil sie auflaufen, wenn die Kinder nicht mehr auf sie ausge­rich­tet sind. Die Gleichaltrigenorientierung entsteht, wenn Eltern zuwenig wahr­nehmen, wie wichtig sie für ihre Kinder sind. Bindungslücken liegen vor, wenn Kinder nicht mehr auf Erwachsene ausgerichtet sind, nicht mehr auf sie hören. Das kann viele Ursachen haben:

·          Wenn Eltern für ihre Kinder emotional schlecht erreichbar sind, wenden sich diese enttäuscht von ihren Eltern ab.

·          Wenn Eltern glauben, ihr Kind brauche sie nicht mehr so, sei im Jugendalter nicht mehr so auf ihren Beistand angewiesen.

·          Absorbiertheit, die aus Problemen in der Partnerbeziehung entstehen kann, aus Arbeitsüberlastung, aus mangelnder Zeit, die auch Eltern vor dem Fernseher verbringen.

·          Ein Umzug, der alte Beziehungsnetze schlecht erreichbar macht.

·          Mangelnde Absprachen zwischen den betreuenden Erwachsenen.

·          Mangelnde Achtsamkeit Bindungen gegenüber, was auch durch die wirtschaftliche Globalisierung verstärkt wird.

All dies führt zu einem Rückzug der Eltern aus ihrer Elternrolle. Sie hören auf, die «Sonne» im Sonnensystem ihrer Kinder zu sein. So hat das Kind seinen natürlichen Halt, seinen natürlichen Orientierungspunkt verloren mit der Folge, dass die Grund­voraus­setzung für Erziehung, für das Generationen­lernen verloren geht.

Kraftverstärker in der Erziehung

Neufeld vergleicht die natürliche Autorität der Eltern mit der Servolenkung. Bei der Erziehung stehe den Eltern eine Kraftunterstützung zur Verfügung. Die Servolenkung ist das Wissen um die Bedeutung und die Kraft der natürlichen Bindung. Sie ermöglicht, das Kind zu führen. Bei Ausfall der Servolenkung (mangelnde Ausrichtung auf die Eltern) ist es viel schwerer, ein Auto um Kurven zu steuern, ein- oder auszu­parken. Es ist die Ohnmacht der Eltern, die bewirkt, dass sie ihr Kind nicht wirkungs­voll erziehen können. Fehlt diese Autorität der Eltern, greifen sie zu Druck und Zwang, oder sie flüchten in die Beziehungslosigkeit. Neufeld schafft den Brücken­schlag zwi­schen der innigen Bindungsbeziehung und einer Erziehungskultur, die dem Kind Füh­rung und Halt gibt. Er betont, dass die Eltern-Kind-Beziehung keine horizontale Ebene umschreibt, sondern ein vertikales Beziehungsgefüge vom Führen­den zum Be­dürftigen. Neufeld zeichnet den Eltern einen Weg auf, die merken, dass es zuwenig ist, in der Erziehung nur mit­zuschwingen, prompt und feinfühlig zu sein, die aber auch von den mechanistischen Vorgehensweisen, die derzeit ganz en vogue sind, nicht über­zeugt sind. Gerade Eltern, deren Kinder im Jugendalter sind, gibt dieses Buch wertvolle An­regungen: Sie erfahren, wie sie den Kindern eng verbunden bleiben oder wieder eng zusammenfinden können. Nicht einig gehe ich mit Neufelds Zugrundelegung der Aggressions-Frustrations-Theorie. Hier knüpft er nicht an der gut belegten Lerntheorie in der Erklärung von Gewalt­phänomenen an (Lernen am Modell und Lernen durch Ver­such, Irrtum und Erfolg). Konsequenterweise untergewichtet Neufeld dann auch die negative Rolle der Medien. Dieser Einwand schmälert allerdings nicht den Wert des Buches. Hier ist dem Autor ein großartiger Entwurf der Bindungsbeziehung mit Fokus­sierung auf die elterliche Sicherheit und Führung gelungen. Im Erziehungsalltag lässt sich die These der Gleichaltrigen­orientierung auf Grund von Bindungslücken gut überprüfen.

Ein Beispiel

Hierzu ein Beispiel: Als die Mutter eines 12jährigen Jugendlichen meine Praxis aufsuchte, weil sie in großer Besorgnis war, überprüfte ich mit ihr gemeinsam Neufelds These. Die Lehrerin hatte die Mutter einbestellt, weil Nick überhaupt nicht mehr bereit war, mit der Lehrerin zu kooperieren. Er hatte nur noch Augen für seinen neuen Freund, den notorischen Störer der Klasse. Nick robbte während des Unterrichts auf dem Boden, machte Tiergeräusche, warf Tische um. Ein erstaunliches Verhalten in einer 6. Gymnasial­klasse. Strafen schienen ihn nicht zu erreichen. Im gemeinsamen Gespräch wurde deutlich, dass sich tatsächlich seit mehreren Monaten eine «Bindungs­lücke» aufgetan hatte: Der Vater hatte sich mit seiner neuen Stelle innerlich aus der Erziehung verabschiedet, und die Mutter redete nur noch wenig mit Nick, weil sie der Meinung war, es laufe alles gut und er habe ja auch endlich einen Freund gefunden. Zwar beunruhigte es sie, dass dieser Gewaltfilme und Gewaltcomputerspiele konsu­mierte, aber immerhin hat er einen Freund, dachte sie. Die Eltern von Nick waren einverstanden, dass sie mit ihrem Sohn so sprechen, dass sie die Ausrichtung wieder auf sich lenkten. Sie waren nach dem Gespräch entschlossen, in der inneren Acht­samkeit näher zu Nick zu finden. Auf dieser Grundlage forderten sie dann ein, dass er auf seine Lehrerin hören solle und nicht auf seinen Klassenkameraden. Sie sprachen mit ihm offen, wie sie über den Freund und dessen «Hobbys» dachten, und suchten nach Alternativen. Tatsächlich löste sich das gravierende Problem dann sichtbar auf. Die Lehrerin sprach von einer bemerkenswerten Kehrt­wendung, die die Eltern auch in mehr gegenseitiger Offenheit spürten. Nicks Eltern waren sich sicher, dass Lernen nur funktioniert, wenn der Schüler sich auf den Lehrer ausrichtet und bezieht anstatt auf destruktive Mitschüler. Diese Wende können Eltern herbeiführen, wenn sie dem Kind verbunden sind und auf der Grundlage dieser Bindung die Beziehung zum Kind führen, die Verantwortung übernehmen und es durchs Leben führen.

Neufeld hat mit seinem Buch die Erziehungsliteratur bereichert. Wohltuend ist, wenn man zwischen den Zeilen liest, mit wieviel Achtung, Wertschätzung und Gleichwertigkeit Neu­feld den Dialog mit den Eltern führt. Er stärkt ihnen den Rücken in schwierigen Zeiten.   ·

 

Gordon Neufeld, Unsere Kinder brauchen uns. Die entscheidende Bedeutung der Kind-Eltern-Bindung. Bremen 2006, ISBN-10 3-934719-20-1