Dr. Anita Schächter
Die Fähigkeit, aus Fehlern und Fehlschlägen zu lernen, ist ein Faktor der emotionalen Intelligenz. Menschen, die den Mut haben, einen Fehler, der ihnen unterlaufen ist, auszuwerten und Schlüsse aus ihm zu ziehen, erleben beruflich und privat mehr Zufriedenheit und Genugtuung. Ist diese Fertigkeit nicht ausgebildet, erleiden Kinder wie Erwachsene täglich im Feinablauf oder in größeren Situationen eine Vielzahl von unangenehmen Rückschlägen, die Lebensqualität, Wohlbefinden und Erfolg im Leben trüben. Das folgende Beispiel soll diesen Gedanken verdeutlichen.
Verzweiflung beim Lernen
«Es ist wirklich nicht schlimm, wenn es nicht sofort
klappt und du die Aufgabe noch nicht lösen kannst», sage ich
zu Carina. «Ich will dir gerne dabei helfen.» Sie ist verzweifelt
und beißt auf ihre Lippen. Rechnen mag sie nicht so gerne, und Textaufgaben
sind ihr ein besonderes Greuel.
Es läuft darauf hinaus, daß sie froh sein
kann, wenn sie im Rechnen ihre Note «ausreichend» halten kann,
das sagte jedenfalls ihre Klassenlehrerin. Die Grundrechenarten beherrscht
sie zwar so einigermaßen. Doch sobald sie selbständig einen
Lösungsweg erarbeiten soll, ist sie blockiert. Diese Schwäche
tritt natürlich bei den Textaufgaben am deutlichsten zutage.
In Deutsch und den übrigen Fächern steht sie
auf «gut» und «befriedigend». Sie hat erfahren,
welchen Notendurchschnitt sie braucht, um auf die höhere Schule wechseln
zu können. Eine schlechte Note im Rechnen kann sie sich nicht leisten.
Das macht Carina noch verzweifelter.
Sie hört auf, bevor sie angefangen hat
Beim Lernen mit Carina fällt auf, daß sie erst
gar nicht recht zu überlegen beginnt, was in der Textaufgabe steht.
Sie stolpert einfach in die Aufgabe hinein, ohne zu überlegen, worum
es eigentlich geht und ob sie die Zahlen dann entsprechend teilen, multiplizieren,
addieren oder aber subtrahieren soll. Sie scheint nur das Ziel zu haben,
die Aufgabe hinter sich zu bringen. Manchmal erwischt sie dabei auch den
richtigen Lösungsweg. Doch sobald sie merkt, daß sie auf dem
eingeschlagenen Weg nicht zur Lösung gelangt, wendet sie sich von
der Aufgabe ab und schweift mit ihren Gedanken umher. Äußerlich
murmelt sie noch die Zahl vor sich hin, wohl um den Anschein zu geben,
sie denke noch mit, doch der Denkvorgang ist abgebrochen, das Denken abgeschaltet.
Nach verschiedenen Beobachtungen und tastenden Versuchen
spreche ich sie einmal direkt an: «Du, Carina, kann es sein, daß
du schon aufgehört hast nachzudenken?» Sie fühlt sich offenbar
ertappt, schaut mich abwehrend an und bleibt stumm. Wenn bei ihr jetzt
das Gefühl aufkäme, daß man ihr mit Strenge oder Ablehnung
begegnet, würde sie sich einem weiteren Gespräch verschließen.
Ich sage ihr freundlich, indem ich ihr zuzwinkere: «Ich meine, so
ein bißchen. Manchmal weiß man nicht, wie es weitergeht, und
denkt dann an etwas anderes, obwohl man es nicht extra tut.» Carina
bestätigt meine Vermutungen. «Soll ich dir verraten, wie du
es anstellen kannst mit dem Lernen?» Ihrem aufmerksamem Blick entnehme
ich, daß sie mir zuhört, und fahre fort: «Dazu müssen
wir uns einfach die Aufgabe einmal genau anschauen.»
Der eigenen Denkstärke vertrauen
Carina läßt sich zögernd darauf ein. Ich
ermutige sie, in kleinen Schritten vorzugehen und sich jeweils vorzustellen,
was in dem Satz steht. Das klappt noch besser, wenn sie sich eine kleine
Zeichnung aufmalt. Wenn sie einen falschen Lösungsweg einschlägt,
folge ich diesem falschen Weg, und zwar so lange, bis Carina von selbst
merkt, daß sie so nicht zur Lösung der Textaufgabe gelangt.
Würde ich zu viel Aktivität und Führung übernehmen
und ihr von mir aus sagen, daß sie so nicht zur Lösung findet,
würde Carina sich wohl zu sehr auf mich verlassen und nicht beginnen,
auf ihre eigene Denkleistung zu bauen. Doch genau das ist das Ziel: Carina
soll lernen, sich auf ihre eigene Denkstärke zu verlassen und in erster
Linie darauf zu vertrauen. Erst wenn Carina von selbst merkt, daß
ihr Lösungsversuch falsch ist, hat ein gemeinsames Nachdenken, warum
ihr Bemühen so nicht zur Lösung führt und wie ein zweiter
Lösungsversuch gestaltet werden kann, einen Sinn. Hierbei muß
Carina den ersten Schritt machen, für sie geht es ja darum, die Denkschritte
selbst zu vollziehen und sich in einem Lösungsweg gegebenenfalls zu
korrigieren. Alles in einer spielerischen Art und mit ein wenig Freude
am Ausprobieren. Manchmal gibt es auch etwas zu lachen, und so erlebt Carina,
daß Rechnen auch Spaß machen kann.
Wenn sie viele solche Erlebnisse macht, wird für
sie diese andere Herangehensweise mehr und mehr zum inneren Modell, auch
dann, wenn sie zu Hause oder in der Schule einmal keine Hilfestellung hat.
Wie immer braucht es Geduld, bis Carina eine bessere Rechnerin geworden
ist. Wer auch immer mit Carina lernt, muß darauf achten, keine Ungeduld
an sie heranzutragen, denn diese würde ihr eigenes Gefühl von
Unzulänglichkeit nur noch verstärken. Wie so oft im Leben klappt
nicht alles beim ersten Anlauf. Auch das will gelernt sein. •
Quelle: Für die Familie e.V., Infobrief 2