Warum unsere Kinder UNS brauchen

 

Wieso dieser Titel? Weil unsere Kinder uns brauchen – keine professionellen Erzieher, weil die Erziehen gelernt haben, keine Gleichaltrigen, weil die sich doch mehr einfüh­len können in die Welt des Kindes, keine elektronischen Medien, mit Hilfe derer man alles viel besser lernen kann, … Was genau brauchen unsere Kinder, um zu selbst­bestimmten, verantwortungsvollen Mitmenschen zu werden, die auf der Grund­lage eines gesunden Selbstwertgefühls mitfühlen und mitmenschlich handeln können?

In den Theorien zur Erziehung gibt es verschiedene Bezeichnungen für das, was gutes Erziehen ausmacht. Alfred Adler bezeichnete es als wohlwollendes Führen, der Kinder­psychologe Bergmann als gute Autorität, Diana Baumrind als autoritativen Erzie­hungs­stil oder der Psychologe Gordon Neufeld als Verbindung vor Weisung.

Allen gemeinsam dabei ist, dass sie der Beziehung zwischen Eltern und Kind einen zentralen Stellenwert einräumen. Warum ist das so?

 

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Der Mensch ist von seiner Natur her ein soziales Wesen. Das heißt, dass er zum einen elementar auf die Beziehung zu seinen Mitmenschen angewiesen ist und sich daher in Gemeinschaften zusammen tut. Zum anderen ist der Mensch darauf angelegt zu kooperieren. Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist es noch sehr unreif. Man nennt das eine „physiologische Frühgeburt“. Das bedeutet, dass viele Funktionen, die bei den meisten neugeborenen Tieren schon vorhanden sind, vom Menschenkind erst erlernt werden müssen. Dies hat seinen Grund und Sinn darin, dass der Mensch sich in der Gemeinschaft, in der Kultur, in die er hineingeboren wird, zurechtfinden muss. Und alles, was er dazu lernt, erfährt und erlebt, vollzieht sich im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Die erste und wesentlichste Beziehung ist die zur Mutter oder zu einer anderen konstanten Bezugsperson. Die Mutter vermittelt dem kleinen Kind die Welt. Zunächst geschieht das dadurch, dass die Mutter auf Signale des Kindes adäquat reagiert. Es entsteht ein feines Wechselspiel in Mimik und Gestik und den Lauten zwischen Mutter und Kind. Das Kind erlebt, dass auf Gefühle von Angst oder Unwohlsein eine verlässliche Hilfestellung kommt, wodurch es eine sichere Bindung zur Mutter aufbaut. Diese Bindung zum Kind, die beide Eltern in den ersten Lebensjahren aufbauen, ist das kostbarste und wichtigste, was wir in der Erziehung haben und auf dem wir immer aufbauen können und müssen. Leider ist uns das oft zu wenig bewusst. Wir sehen eher unsere Wertvorstellungen oder wie sich unsere Kinder verhalten sollen im Vordergrund. Dabei übersehen wir, dass all das nur auf der Grundlage einer guten und sicheren Bindung gelingt. Vernachlässigen wir es, das Kind immer wieder zu uns herzuholen, mit ihm in Verbindung zu treten, verfehlen wir sein Grundbedürfnis, nämlich mit uns in Verbindung zu sein. Wie sieht das konkret aus?

 

Neurobiologische Grundlagen für den Aufbau von Bindung

Das menschliche Gehirn ist ein soziales Organ. Es entwickelt sich über Beziehungs­erfahrung. Dass Beziehung und Bindung möglich sind, liegt an den sog. „Spiegel­neuronen“. Dies sind Nervenzellen im Gehirn, die bei sozialer Interaktion aktiviert werden. Um deren Funktionsweise zu verstehen, soll zunächst die Entwicklung und Funktionsweise des Gehirns allgemein erklärt werden.

Auf einen kurzen Nenner gebracht, kann man sagen: Das Gehirn wird so, wie man es benutzt. Wahrnehmungen werden über die verschiedenen Sinneskanäle an Zentren im Gehirn weiter geleitet, dort mit Informationen über Vorerfahrungen und innere Zustände verknüpft und daraus wird eine Reaktion abgeleitet. Je häufiger ähnliche Vor­gänge ablaufen, desto mehr verfestigen sich derartige Verknüpfungen und es entstehen Netz­werke im Gehirn, die es ermöglichen, dass die entsprechenden Reaktionen immer schneller erfolgen. Dies betrifft motorische Handlungen genauso wie gefühlsmäßige Abläufe und Beziehungsmuster.

In der Hirnentwicklung des Kindes gilt eine Regel: Use ist or lose it. Das bedeutet: Das wichtige sind diese Vernetzungen, die durch den Gebrauch erst entstehen. Werden durch Wiederholungen von Wahrnehmungen oder Tätigkeiten also bestimmte Netz­werke öfter benutzt, stabilisieren sich diese, werden sie wenig benutzt, werden sie schwächer oder gehen zugrunde. Dadurch entsteht die Feinstruktur des Gehirns, die sich verändern lässt durch Gebrauch oder Nicht-Gebrauch.

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungsmuster werden in solchen Nervenzell-Netzwerken niedergeschrieben und bilden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster für künftige Beziehungen. Diese Vorerfahrungen werden gespeichert und sind dann oft nicht mehr bewusst. Aber sie bilden in neuen Situationen den Bewertungsmaßstab, wie diese neue Situation eingeschätzt werden muss, ob sie bedrohlich ist oder nicht. Als bedrohlich werden Situationen eingeschätzt, die früheren Situationen gleichen, welche z.B. vom Betroffenen selbst oder von bedeutsamen Bezugspersonen nicht zu bewäl­tigen waren oder in denen man keine Hilfe erhielt; oder bei der die Bezugspersonen dem Betroffenen eine Bewältigung nicht zugetraut haben. Waren also vergleichbare frühere Situationen bedrohlich, wird auch die neue so eingeschätzt, ob sie es nun ist oder nicht. Diese Vorerfahrungen mit ihren Wiederholungen addieren sich im Gedächtnis und werden zu Persönlichkeitsmerkmalen – also bestimmen, ob jemand eher zuversichtlich und vertrauensvoll oder ängstlich und resignativ wird.

Da dies alles in zwischenmenschlichen Beziehungen stattfindet, gibt es auch einen guten Weg, eventuelle Fehlentwicklungen wieder zu korrigieren, nämlich in einer vertrauensvollen, aber anders verlaufenden Beziehung.

Nur in einer direkten und verlässlichen zwischenmenschlichen Beziehung kann der Mensch ein stabiles Selbstwertgefühl und prosoziales Verhalten entwickeln.

 

Empathie

Das, wo das Beziehungsgeschehen stattfindet, nennen die Forscher die Spiegelneurone. Diese ermöglichen es uns Menschen zum einen, Stimmungen und Gefühle eines anderen, z.B. einen Schmerz, den ein anderer erleidet, selbst körperlich zu empfinden, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und so wie der andere zu empfinden. Mit dieser Grundausstattung der Spiegelneurone ist das Kind in der Lage, durch das In-Beziehung-treten mit engen Bezugspersonen, Empathie zu erlernen. Das Kind lernt aus der emotionalen Reaktion des Gegenübers, wie eine Situation emotional zu bewerten ist. So schaut ein kleines Kind, wenn es hingefallen ist, zuerst zur Mutter, um zu sehen, wie „schlimm“ es jetzt hingefallen ist. Erst dann fängt es an, mehr oder weniger heftig zu schreien.

Die Hirnforscher haben jedoch interessanterweise herausgefunden, dass Spiegelneurone nur bei einem lebendigen Gegenüber aktiviert werden. Im Fernsehen gesehene Schmerzen z.B. führen nicht zu einer Aktivierung der Spiegel­neu­ronen. Darüber kann keine Empathie gelernt werden. Die gezeigte Handlung führt aber zu einer Speicherung von Hand­lungs­abfolgen, die vom Menschen als eigene Handlungsabfolgen reproduziert werden können. Erst recht werden diese Hand­lungsabfolgen gespeichert, wenn sie, wie bei interaktiven Spielen, ständig trainiert werden. Konkret heißt das, dass Schmer­zen der gequälten virtuellen Person kein Mitempfinden hervorrufen, die Handlungsabfolge aber, wie man erfolgreich jemanden quälen kann (man bekommt ja Punkte dafür) als eigenes Handlungsrepertoire später zur Verfügung steht.

 

Selbstbild

Aus der Spiegelung am Gegenüber entwickelt sich auch das Selbstbild, das, was man von sich selber hält, wie man sich und seine eigenen Fähigkeiten einschätzt. Haben die Eltern die Sicherheit, dass ihr Sprössling der beste Fußballer aller Zeiten ist, wird dieser auch von sich überzeugt sein – und wahrscheinlich sogar sehr gut Fußball spielen. Ist eine Mutter oder ein Vater besorgt, ob das eigene Kind in der Lage sein wird, bestimmte Anforderungen zu meistern, wird auch das Kind ängstlicher daran heran gehen und nicht sicher sein, ob es das schaffen kann. Und wohl auch wirklich schlech­ter sein, als es seinen realen Fähigkeiten entsprechen würde. Bedenkt man dies, ist klar, warum ein freundlicher, feinfühliger und der Situation angemessener Umgang mit dem Kind, ein stärkendes und zutrauendes Verhalten der Bezugspersonen so wichtig sind, damit sich ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln kann. Erlebt das Kind sich tendenziell als Versager, sucht es sich Bestätigung woanders: In einer Gruppe von Gleichaltrigen oder z.B. in Computerspielen: Da ist man dann endlich „wer“.

Das Gefühl für die eigene Bedeutung, das Gefühl, wichtig zu sein und gebraucht zu werden in der Gemeinschaft, in der man sich bewegt (Familie, Schule, Gemeinde), ist ebenso wichtig für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls. Auch dieses Gefühl entwickelt der Mensch in der unmittelbaren Beziehung zu seinen Eltern und Lehrern. Er muss empfinden können „Auf mich kommt es an“. Hierfür braucht es Gelegenheiten. Für uns als Erzieher heißt das, dass wir dem Kind und Jugendlichen den Spielraum und die Möglichkeit lassen müssen, wo er einen wirklichen, echten Beitrag leisten kann. Denn nur im eigenen Tun kann das Kind ein Gefühl für seine Bedeutung entwickeln und die daraus resultierende Genugtuung erleben.

Wie oft ertappen wir uns dabei, dass wir Dinge lieber selbst erledigen, weil es schneller geht, besser erledigt ist oder weil es mit weniger nervenaufreibender Auseinander­setzung mit dem Kind von statten geht. Überlegen wir doch einmal, wo unser Kind z.B. Aufgaben übertragen bekommen kann, die es mit Hilfe seiner Fähig­keiten bewältigen kann. Es kann die Verrichtung alltäglicher Aufgaben sein, die Ver­sor­gung von Haustieren, das Spiel im Mannschaftssport, Engagement in Jugend­gruppen oder Hilfsorganisationen. Überall, wo das Kind bemerkt, dass es gebraucht wird, dass es mittun kann und dass das ganze ohne seinen Beitrag nicht oder nicht so gut gelungen wäre, stärkt dies das innere Selbstvertrauen. Hierbei braucht das Kind dann kein überschwängliches Lob und auch keine Belohnung, sondern das Gelingen der Sache bringt Genugtuung und Zufriedenheit. Die Stärkung des Selbstwertgefühls resultiert aus der inneren Befriedigung darüber, etwas gemeistert zu haben oder jemandem helfen zu können und zu wissen, dass es auf mich ankommt. Dies ist eine ganz andere innere Freude als die Freude über ein Geschenk oder die Erfüllung eines materiellen Bedürf­nisses. Wenn wir das Bedürfnis des Kindes nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vernachlässigen und stattdessen Konsum­bedürf­nisse befriedigen, verkümmert die Seele des Kindes. Es entwickelt keine inneren Kräf­te, die aus der Zu­frie­denheit und Genugtuung über die Bewältigung einer Aufgabe ent­ste­hen und aus der der Mensch schöpfen kann, sondern Unzufriedenheit und Selbst­bezogenheit.

Dazu gehört auch, dass das Kind lernen muss, selbst Lösungen für anstehende Schwierig­keiten zu entwickeln, Unlust- oder Langeweile-Gefühle mithilfe eigener Aktivität zu überwinden. Es ist nicht unsere Aufgabe als Eltern, dem Kind immer ein angenehmes Gefühl zu verschaffen, dafür zu sorgen, dass das Kind immer zufrieden ist. Wohl aber ist unsere Aufgabe, unseren Kindern die Zuversicht und Sicherheit zu vermitteln, dass sie in der Lage sind, ihre Schwierigkeiten zu lösen und wir sie gegebenenfalls dabei unterstützen – aber nicht, indem wir ihnen die Steine aus dem Weg räumen. Es ist eine Lebensaufgabe des Menschen, eigene Möglichkeiten zu entwickeln, wie man unangenehme Gefühle überwinden kann.

 

Lernen am Modell

Eng damit zusammen hängt das soziale Lernen, das überwiegend mithilfe der Spiegelneuronen über das Lernen am Modell erfolgt: Unser Vorbild, unser Zeigen und unser Vormachen sind enorm wichtig. Als Eltern können wir diese Vorbildwirkung nicht den Gleichaltrigen oder vermeintlichen Vorbildern wie Eminem, dem Computer­spiel Counterstrike und Co. überlassen. Die Eltern sind und bleiben dieje­nigen, an denen sich die Kinder orientieren, wenn sie sich dessen bewusst sind und diese Aufgabe auch aktiv übernehmen. Gerade auch die Väter haben eine große Bedeutung für die Heranwachsenden. Der Papa, der einem die Welt zeigt, im Kleinen wie im Großen, der Papa, der einen fordert – meist etwas oberhalb der Grenzen, die die Mütter sehen – und mit dem zusammen das Leben spannend und doch sicher ist. Ein Teil dessen, warum unsere Kinder nicht mehr an uns ausgerichtet sind, sondern in einer eigenen Welt mit der peer-group leben oder anfälliger für die Computerspiele sind, liegt in der zu geringen Präsenz der Väter bzw. der Männer überhaupt. Jungen wollen sich identifizieren mit dem großen starken Vater. Bietet der Vater dafür zu wenige Gelegenheiten, suchen sich die Jungen andere Vorbilder.

 

Elterliche Erziehung konkret

Gegenwärtig gibt es die Tendenz, die Nachfrage nach erzieherischen Strategien zu bedienen. Das ist es jedoch nicht, was Eltern brauchen. Was Eltern brauchen, ist die Sicherheit, dass sie die wichtigsten für ihre Kinder sind und dass sie in die Lage kommen, mit ihren Kindern in Beziehung zu sein.

Dabei gibt es Rückschläge und Fehler, die wir uns nicht übel nehmen dürfen, aus denen wir aber lernen können, wenn wir sie reflektieren.

Ein Beispiel:

Die 8jährige Maria spielt mit ihrer Schwester im Garten „Schuhe durch die Luft schmeißen“. Ein Schuh ihrer Schwester landet in der Rosenhecke. Mit einem Stock versucht Maria, ihn herunterzubekommen. Weil sie sich dabei an den Dornen verletzt, jammert sie herum. Die Mutter will ihr behilflich sein, indem sie ihr sagt, sie solle den Schuh doch ihre Schwester selber holen lassen, woraufhin sie ihre Schwester in einer Mischung aus Heulen und Beschimpfen ruft. Der Vater bekommt nur diesen unschönen Ton mit und will ihr klar machen, dass sie damit nicht weiter kommt, indem er ruft, sie solle sofort damit aufhören, sie sei nicht der Mittelpunkt der Welt. Wie reagiert Maria? Sie schimpft laut los, er sei der gemeinste Papa der Welt und wirft gleichzeitig einen Stock nach ihrer Schwester. Daraufhin schickt der Vater sie ins Haus, sie solle sich gefälligst besinnen, so könne sie hier nicht bleiben. Wütend rennt Maria hinein und knallt die Tür.

Was ist abgelaufen? Das wilde Toben im Garten war laut und fröhlich. Der Schuh der Schwester in der Hecke veranlasste Maria zu helfen (sie verfügt also über Empathie). Das war eine positive Absicht, die wir als Eltern sehen und würdigen müssen, um unsere Kinder nicht zu verfehlen. Dann trat ein Problem auf (Dornen), wodurch sich Maria erinnerte, dass es ja der Schuh der Schwester war – also war sie der Verursacher ihrer Schmerzen (Marias Selbstbild: Ein anderer ist das Problem, nicht ich). An dieser Stelle wäre eine mögliche Reaktion der Eltern, ihr Mitgefühl für den Schmerz auszu­drücken „Gell, das hat jetzt weh getan“ und ihre positive Absicht zu würdigen “Jetzt wolltest Du Deiner Schwester helfen und da passiert so etwas. Das ist wirklich ärgerlich“. Dadurch wird die Verbindung zum Kind hergestellt und es ist für den korrigierenden Hinweis empfänglicher: „Deine Schwester kann aber gar nichts dafür, dass die Rose Dich gekratzt hat. Sie zu schimpfen hilft da nicht. Wenn Du merkst, dass es Dir zu schwierig ist, den Schuh aus der Rosenhecke herauszuangeln, dann hol mich ruhig, ich helfe Dir gerne.“ Das schafft eine verbindendes Gefühl zwischen den Schwestern einerseits und stärkt die Selbstkompetenz andererseits: Ich hole mir Hilfe, wenn ich sie wirklich brauche).

Um eine Kooperation des Kindes zu erreichen, muss eine Bindung da sein. Bindung vor Weisung nennt Gordon Neufeld dieses Vorgehen. – der kleine Bindungsschritt steht am Anfang. Das ist hilfreicher, als ein Vorwurf, eine Zurechtweisung oder Maß­nah­men. Ist zuwenig Bindung und Ausrichtung des Kindes vorhanden, wird es beleidigend oder aggressiv, ist es förderlich, nicht unmittelbar zu reagieren oder lediglich eine Bemer­­kung über die Befindlichkeit des Kindes zu machen („Du ärgerst Dich jetzt gewaltig“). Kommt man dann später auf den Vorfall zurück, ist das Kind viel empfäng­licher für unsere Hilfestellungen, auf einen konstruktiveren Weg zu kommen: „Jetzt haben wir zwei es so schön miteinander, vorhin war das anders, als Du so wütend warst. Es ist schon komisch, dass wir auf Menschen, die wir lieb haben, so wütend werden können. Findest Du nicht auch?“

In unserem Beispiel kommt auch der Vater vor. Der Vater, der z.B. so erschöpft vom anstrengenden Tag ist, dass er ganz genervt ist vom Toben der Kinder: Wie kann man damit umgehen? Eine Möglichkeit wäre, dass die Mutter vermittelt. Z.B.:„Kinder, wie können wir Papa jetzt etwas Gutes tun? Er ist ganz erschöpft von der Arbeit.“ Dieses Vorgehen ermöglicht dem Kind, eine eigene Aktivität zu entwickeln, weckt Verständ­nis für den Mitmenschen und es dreht sich nicht immer alles um die Bedürfnisse des Kindes. So kann Beziehung entstehen. Oder der Vater artikuliert selbst seine Befind­lichkeit und stellt Bindung her.

Ist alles doch so abgelaufen wie in dem Beispiel, können die Eltern im Nachhinein dem ganzen einen positiven Ausblick geben: „Ich weiß, Du wolltest es so nicht, und du wirst es lernen, es anders zu machen.“ Das stellt wieder eine Bindung her, und die Eltern signalisieren, dass das Verhalten nicht in Ordnung war, dass damit das Kind aber nicht abgestempelt ist.

 

Unsere Kinder brauchen uns

Heute sind Kinder immer mehr auf Gleichaltrige und nicht auf die Erwachsenen ausgerichtet, weil wir uns in einem gesellschaftlichen Prozess befinden, in dem immer mehr Bindungslücken entstehen, die durch die Bindung an Gleichaltrige vermeintlich gefüllt werden. Diese Gleichaltrigenorientierung vermag jedoch nicht, diese Lücke im Sinne einer echten, stärkenden Bindung zu schließen.

Wir haben oft das Gefühl, die Kinder müssten möglichst viel unter Gleichaltrigen sein. Freunde zu haben, sei das wichtigste. Dabei verkennen wir die Gefahr, die durch eine zu starke Gleichaltrigenorientierung entsteht: Gleichaltrige können nicht unerschüt­terliches Vertrauen, Halt bieten. Sie können nicht mit Weitblick die Erfordernisse des Lebens einbeziehen und auf dieser Grundlage Orientierung bieten. Sie können nicht abwägen, wann eigene Bedürfnisse zurückgestellt werden sollten zugunsten der Ent­wick­lung des anderen. Überlassen wir also unsere Kinder den Einflüssen der Gleich­altrigen, entstehen beim Kind Gefühle der Heimatlosigkeit, der inneren Leere, der Orientierungs­­losigkeit. Und sie fliehen vor diesen schmerzhaften Gefühlen immer mehr in die Gruppe, weil sie dort für einen Moment wer sein können. Aber sie verlieren dadurch immer mehr den Draht zum Erwachsenen, können nicht mehr lernen, werden nervös und unsicher.

Als Eltern und Lehrer haben wir viele Möglichkeiten, die Kinder immer wieder zu uns herzuholen, mit ihnen zusammen etwas zu unternehmen, uns für sie zu interessieren, ihnen wirklich zuzuhören, sie anzuleiten, ihnen mitmenschliche Werte vorzuleben und mit ihnen zusammen etwas Aufbauendes zu tun.

Dr. Elke Möller-Nehring, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

(überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 09.05.2009 in der Matthäusgemeinde in Erlangen)

 

Quelle: Für die Familie, Infobrief 9, Dezember 2009