Was lernen unsere Kinder?

Der Mensch ist das lernende Tier. Natürlich lernen Tiere auch – etwa lernen Katzenjunge das Mäuse­fangen von ihrer Mutter und manche Vögel den Gebrauch eines Stöckchens als Werkzeug – aber kein anderes Lebewesen kann lernen, sowohl in den eisigsten Kälten der Polargebiete als auch in den trockensten Wüsten oder im tropischen Urwald zu überleben. Und das verdanken wir nicht irgendwelchen überragenden körperlichen Eigenschaften, im Gegenteil: körperlich sind wir kaum mittelmäßig. Die Stärke des Menschen liegt sicher auf ganz anderen Gebieten. Ich glaube, daß dabei die wichtigste Fähigkeit die der Kooperation ist: Menschen sind Gemeinschafts­wesen. Nur gemeinsam können wir ein Mammut erlegen, einen Iglu bauen oder eine Symphonie aufführen.

Wie diese Gemeinschaftsfähigkeit entsteht, darüber hat die Bindungstheorie schon viel herausgefunden. Es braucht zunächst die ganz vertrauensvolle Bindung an eine Person, meistens die Mutter. Hier fängt die Gemein­schaft an. Über diese Person wird im Lauf der Zeit der Kreis erweitert, zur Familie, zu Freunden. Und allmählich wird diese Ein­führung in die Gemeinschaft zu einer Einführung in die Kultur, also in die gemein­same Sprache, die Eßgewohn­heiten, die Musik und in Verhaltens­normen, die es erlauben, sich in der Gemeinschaft zu bewegen.

Das ist es doch, was Erziehung ausmacht: eben weil es so unterschiedliche Kulturen gibt, kann die kulturelle Ausprägung dem Menschen nicht angeboren sein. Ja, man könnte sagen: damit diese Lernphase lange und intensiv genug ist, müssen Kinder hilflos und ganz auf andere angewiesen zur Welt kommen. Gerade die lange Entwicklungszeit – welches Tier braucht so lange, bis es geschlechtsreif ist? – unterstreicht die Wichtigkeit dieser Weitergabe. Schlägt dieser Prozeß fehl, entstehen entwurzelte Einzelgänger oder manipulierbare Mitläufer ohne Bezug zum Mitmenschen.

Von daher müßte eigentlich Einigkeit darüber bestehen, daß diese Entwicklungs­phase eine äußerst sensible Phase ist, die es mit aller Kraft zu schützen gilt. Was nicht bedeutet, daß man die Kinder behüten sollte, im Gegenteil: wer Kinder ins Leben einführen möchte, muß sie auch dem wirklichen Leben aussetzen und sie daran teilhaben lassen – ihrem Alter und Entwicklungsstand gemäß.

Aber wo ist dieser Konsens geblieben? Kinder werden sich selbst überlassen und mit elektronischen Spielzeugen ruhiggestellt. Man sehe sich Nachmittagsshows im Fernsehen an und stelle sich vor, welches Bild von der Wirklichkeit da vermittelt wird. Und das ist beinahe noch harmlos gegen Computerspiele, bei denen Kinder den Grausamkeiten nicht nur zusehen, sondern diese aktiv einüben.

Natürlich ist hier auch die Politik gefordert. Ihre Möglichkeiten, z.B. gewalttätige Spiele zu unterdrücken, mögen in Zeiten des Internet begrenzt sein. Aber sie müßte die Gefahr beim Namen nennen und nicht beschwichtigen, wenn klare Worte gefordert sind. Wissenschaftlich fundierte Informationen zu den Folgen von Gewaltspielen müssen verbreitet werden. Auf der Basis der wissenschaftlichen Ergebnisse müßte ein gesell­schaft­licher Konsens hergestellt werden. Stattdessen hört man immer noch, sogar von Politikern, das alte falsche Argument, daß der Zusammenhang zwischen solchen Spielen und tatsächlicher Gewalt eben nicht bewiesen sei. Daß ein auf Einsicht beruhender Konsens wirksam ist, kann man an einem einfachen Vergleich sehen: kein Vater käme auf die Idee, seinen Kindern eine Waffe in die Hand zu geben, weil es eben einfach klar ist, daß – und warum – man das nicht tut.

An diesem Punkt wird besonders deutlich, wie weit wir uns in diesen Fragen von einer normalen Gesellschaft entfernt haben, die selbstverständlich darauf achtet, was ihre Jugend tut. Was ist eigentlich mit einer Gesellschaft los, die es duldet, daß ihre Kinder mit raffinierten elektronischen Programmen das Töten lernen? Mit welchen Argumenten sind uns diese Selbstverständlichkeiten ausgeredet worden?

Ich glaube, es geht darum, daß wir uns wieder auf diese Selbstverständlichkeiten besinnen und sie gegenüber Nachbarn, Freunden und natürlich unseren Kindern vertreten. Unser Gemeinschaftssinn wird uns dabei helfen.

Karl Stierstorfer

Quelle: Für die Familie e.V., Infobrief 5, Oktober 2004